Die Potenzialerhebung wird ab dem 01. Juli 2025 zur Pflicht in der außerklinischen Intensivpflege. Was sich ändert, warum sie wichtig ist und welche Chancen und Herausforderungen sie mit sich bringt – ein Überblick.

    Inhaltsverzeichnis

    Potenzialerhebung in der außerklinischen Intensivpflege: Gesetzliche Grundlagen, Ablauf und neue Ausnahmeregelung

    Die Potenzialerhebung ist ein zentrales Instrument der modernen außerklinischen Intensivpflege.

    Immer mehr Menschen werden außerhalb des Krankenhauses künstlich beatmet oder mit einer Trachealkanüle versorgt – umso wichtiger ist es, regelmäßig zu prüfen, ob eine Entwöhnung oder Therapieverbesserung möglich ist. Gesetzlich verankert durch das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) und die AKI-Richtlinie, dient die Potenzialerhebung dem Patientenschutz und einer besseren Versorgungsqualität.

    In diesem Artikel erfahren Sie:

    • Welche gesetzlichen Grundlagen und verbindlichen Regeln ab Juli 2025 gelten
    • Wie sich die Potenzialerhebung auf Ärzte, Pflegekräfte und Patienten auswirkt
    • Welche praktischen Chancen und Herausforderungen sie in der Pflegepraxis mit sich bringt

    Hintergrund: Warum braucht es die Potenzialerhebung?

    Die außerklinische Intensivpflege (AKI) ist eine hochspezialisierte Pflegeform für Menschen, die rund um die Uhr auf Beatmung oder eine Trachealkanüle angewiesen sind. Lange Zeit fehlte ein standardisierter Prozess, um regelmäßig zu prüfen, ob diese Patienten vielleicht doch schrittweise von der Beatmung entwöhnt oder von einer Kanüle befreit werden können.

    Mit dem Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) hat der Gesetzgeber 2020 die Potenzialerhebung als verpflichtendes Element eingeführt, um diesen Missstand zu beheben. Ziel ist es, jeden Behandlungsfortschritt zu erkennen und auszuschöpfen: Kann die Beatmungszeit reduziert werden? Ist ein Weaning – also die vollständige Entwöhnung von der Maschine – möglich? Kann die Trachealkanüle entfernt werden?

    Hintergrund dieser Regelung ist der Schutz der Patientinnen und Patienten. Eine Beatmung birgt immer Risiken wie Infektionen, Immobilität oder soziale Isolation. Jede Verbesserung der Eigenatmung bedeutet mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität. Gleichzeitig sollen die hohen Kosten der Intensivpflege gezielt dort eingesetzt werden, wo sie wirklich nötig sind – auch das ist ein Kernanliegen der Reform.

    Die Potenzialerhebung markiert daher einen Paradigmenwechsel: weg von der Dauerverordnung, hin zu einer individuellen, regelmäßig überprüften Behandlungsperspektive für schwerstkranke Menschen.

    Gesetzliche Grundlagen und Anforderungen

    Die Potenzialerhebung ist fest im deutschen Sozialgesetzbuch (§ 37c SGB V) verankert und wird durch die Richtlinie über die Verordnung von außerklinischer Intensivpflege (AKI-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) konkret geregelt.

    Seit dem Inkrafttreten der AKI-Richtlinie am 31. Oktober 2023 gilt:

    • Anspruch auf außerklinische Intensivpflege besteht nur, wenn ein besonders hoher Bedarf an medizinischer Behandlungspflege vorliegt.
    • Die Verordnung darf ausschließlich durch besonders qualifizierte Vertragsärzte erfolgen – etwa Fachärzte für Intensivmedizin, Pneumologie oder Anästhesie mit nachgewiesener Beatmungsentwöhnungserfahrung.
    • Der Arzt muss vor jeder Verordnung eine Potenzialerhebung veranlassen oder selbst durchführen und das Ergebnis auf dem offiziellen Formular 62A dokumentieren.
    • Zusätzlich sind ein Behandlungsplan (Formular 62C) und bei Ausnahmen eine Begründung (Formular 62B) erforderlich.

    Die Erhebung muss mindestens alle sechs Monate wiederholt werden. Wird jedoch festgestellt, dass dauerhaft keine Aussicht auf Besserung besteht, darf in Ausnahmefällen ein längerer Turnus von bis zu zwölf Monaten eingehalten werden.

    Die Potenzialerhebung ist somit nicht optional, sondern ein verbindlicher Teil der medizinischen Behandlungskette. Sie stellt sicher, dass Beatmung und Trachealkanüle nur so lange eingesetzt werden, wie es medizinisch notwendig ist.

    Ablauf einer Potenzialerhebung

    Die Potenzialerhebung folgt klaren medizinischen und organisatorischen Vorgaben. Ziel ist es, den aktuellen Gesundheitszustand eines beatmeten oder tracheotomierten Patienten umfassend zu bewerten und alle Möglichkeiten der Therapieoptimierung auszuloten.

    Was wird geprüft?

    Im Mittelpunkt stehen vier Schlüsselfragen:

    • Kann die tägliche Beatmungsdauer verringert werden?
    • Ist eine vollständige Entwöhnung (Weaning) von der Beatmung möglich?
    • Lässt sich die Trachealkanüle entfernen (Dekanülierung)?
    • Gibt es alternativ schonendere Versorgungsformen, wie die Umstellung auf eine nicht-invasive Beatmung über Maske?

    Zusätzlich wird geprüft, ob weitere Optimierungen der Therapie und Pflege möglich sind, selbst wenn eine Entwöhnung ausgeschlossen ist – zum Beispiel durch bessere Geräteeinstellungen oder verbesserte Sekretmanagement-Techniken.

    Turnus und Wiederholung

    Die Potenzialerhebung ist mindestens alle sechs Monate durchzuführen. In Ausnahmefällen (Negativbefund ohne Aussicht auf Besserung) reicht eine Wiederholung einmal pro Jahr. Wichtig: Zum Zeitpunkt der Verordnung darf der Bericht maximal drei Monate alt sein.

    Übergangsregelung bis 30.06.2025

    Aktuell gilt eine Übergangsfrist: Bis zum 30. Juni 2025 ist die Potenzialerhebung eine Soll-Vorgabe – sie sollte also erfolgen, muss aber nicht zwingend vor jeder Verordnung vorliegen, wenn kein qualifizierter Arzt rechtzeitig verfügbar ist. In solchen Fällen muss sie jedoch nachgeholt werden.

    Besondere Situationen

    • Entlassung aus dem Krankenhaus: Schon während des Klinikaufenthalts muss geprüft werden, ob eine Entwöhnung möglich ist. Kliniken sind verpflichtet, Weaning-Versuche durchzuführen, bevor eine Entlassung in die außerklinische Intensivpflege erfolgt.
    • Telemedizin: Unter bestimmten Voraussetzungen darf ein Teil der Potenzialerhebung auch telemedizinisch erfolgen, z. B. per Video. Mindestens einmal pro Jahr ist jedoch eine persönliche Begutachtung vor Ort vorgeschrieben.

    Die Potenzialerhebung ist damit ein kontinuierlicher, strukturierter Prozess, der regelmäßig überprüft, ob und wie die Lebensqualität der Betroffenen verbessert werden kann.

    Was ändert sich ab dem 01.07.2025?

    Mit Ablauf der Übergangsfrist tritt am 01. Juli 2025 ein entscheidender Wechsel in Kraft: Die Potenzialerhebung wird ab diesem Datum endgültig verpflichtend und nicht mehr nur eine Soll-Vorgabe.

    Was bedeutet das konkret?

    • Keine Verordnung ohne Potenzialerhebung: Ab 01.07.2025 darf eine Verordnung für außerklinische Intensivpflege nur noch ausgestellt werden, wenn eine aktuelle, dokumentierte Potenzialerhebung vorliegt. Ausnahme: Es liegt ein bestätigter Negativbefund vor, der nach den Regeln der AKI-Richtlinie eine längere Gültigkeit hat.
    • Übergangs- und Altfallregelung endet: Für Patienten, die bereits vor Inkrafttreten der AKI-Richtlinie betreut wurden, gilt: Bis spätestens 31. Oktober 2025 muss einmalig eine Potenzialerhebung nachgeholt werden. Danach gelten dieselben verbindlichen Regeln wie für neue Fälle.
    • Keine Ausnahmen mehr aus Personalmangel: Während bis Mitte 2025 noch erlaubt ist, die Erhebung nachzuholen, wenn kein geeigneter Facharzt verfügbar ist, entfällt diese Ausnahme ab dem 01. Juli 2025. Der Nachweis einer Potenzialerhebung ist dann Voraussetzung für jede genehmigungsfähige Verordnung.
    • Strengere Kontrollen: Krankenkassen und der Medizinische Dienst prüfen ab diesem Stichtag noch konsequenter, ob alle Vorgaben eingehalten werden.

    Die Neuregelung ab Juli 2025 sorgt für ein einheitliches, verbindliches Vorgehen und soll sicherstellen, dass wirklich jede Chance auf (Entwöhnung) oder Therapieverbesserung genutzt wird – im Sinne der Patientensicherheit und einer wirtschaftlich sinnvollen Versorgung.

    Auswirkungen auf die Beteiligten

    Die Einführung und verbindliche Umsetzung der Potenzialerhebung betrifft viele Akteure im Gesundheitssystem – von Pflegekräften über Ärzte bis zu Kostenträgern und den betroffenen Patienten selbst.

    Pflegekräfte und Pflegedienste

    Für Pflegedienste bedeutet die Reform höhere Qualitätsanforderungen: Nur qualitätsgeprüfte Anbieter dürfen außerklinische Intensivpflege erbringen. Pflegekräfte müssen eng mit Ärzten zusammenarbeiten, (Entwöhnungs)-Maßnahmen unterstützen, Beobachtungen dokumentieren und auf jährliche Prüfungen durch den Medizinischen Dienst vorbereitet sein. Das sorgt für mehr Professionalität, bringt aber auch organisatorischen Aufwand.

    Ärzte

    Ärzte tragen mehr Verantwortung: Sie müssen eine Zusatzqualifikation nachweisen, regelmäßig Potenzialerhebungen durchführen und Behandlungspläne erstellen. Viele Hausärzte haben sich weitergebildet, um ihre langzeitbeatmeten Patienten weiter betreuen zu können. Gleichzeitig steigt der bürokratische Aufwand durch neue Formulare und engere Abstimmung mit allen Beteiligten.

    Kostenträger

    Krankenkassen haben durch die neuen Regeln mehr Steuerungsmöglichkeiten: Sie genehmigen jede Verordnung nur nach sorgfältiger Prüfung und organisieren jährliche MD-Kontrollen. Langfristig erhoffen sie sich Einsparungen, wenn Patienten erfolgreich entwöhnt werden können. Gleichzeitig investieren sie in Qualitätssicherung, Verträge mit spezialisierten Pflegediensten und die Finanzierung von Weaning-Aufenthalten.

    Patienten und Angehörige

    Für Menschen mit außerklinischem Intensivpflegebedarf bietet die Potenzialerhebung eine strukturierte Möglichkeit, ihre Versorgung regelmäßig an den aktuellen Gesundheitszustand anzupassen. Dabei werden vorhandene Entwicklungsmöglichkeiten frühzeitig erkannt, um gegebenenfalls eine Reduzierung der Beatmung oder eine Umstellung auf weniger invasive Versorgungsformen zu ermöglichen.

    Auch Angehörige profitieren von klaren Behandlungsplänen und einer transparenten Entscheidungsgrundlage. Die regelmäßig aktualisierten Einschätzungen ermöglichen es, Therapieziele gemeinsam mit Ärzten und Pflegeteams besser zu verstehen und mitzutragen. Gleichzeitig können Untersuchungen und Weaning-Versuche für Betroffene körperlich wie emotional herausfordernd sein. Wichtig ist deshalb, dass das Wunsch- und Wahlrecht gewahrt bleibt: Eine Versorgung im häuslichen Umfeld ist weiterhin möglich, sofern sie fachlich abgesichert ist.

    Die Chancen

    Die Potenzialerhebung stellt einen wichtigen Schritt hin zu einer kontinuierlich reflektierten, patientenzentrierten Versorgung dar. Durch die regelmäßige Bewertung der Beatmungssituation kann frühzeitig erkannt werden, ob eine Anpassung der Therapie möglich und sinnvoll ist – sei es eine Reduzierung der Beatmungszeiten, die Umstellung auf alternative Versorgungsformen oder eine vollständige Entwöhnung, wenn medizinisch indiziert.

    Für Pflegedienste und ärztliche Fachkräfte schafft das Verfahren klare Rahmenbedingungen, fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit und stärkt die gemeinsame Verantwortung für Therapieentscheidungen. Patientinnen und Patienten erhalten dadurch eine individuell abgestimmte Versorgung mit bestmöglicher medizinischer und pflegerischer Qualität. Auch Kostenträger profitieren von einer zielgerichteten Steuerung der Versorgung, die Ressourcen effektiv einsetzt und gleichzeitig die Ergebnisqualität verbessert.

    Die Herausforderungen

    In der Praxis gibt es jedoch auch Kritik:

    • Fachärztemangel: In einigen Regionen fehlen spezialisierte Ärzte für die Potenzialerhebung, was Termine verzögern kann.
    • Bürokratie: Neue Formulare, engere Fristen und strengere Prüfungen bedeuten für Ärzte und Pflegedienste zusätzlichen Aufwand.
    • Belastung für Patienten: Wiederholte Untersuchungen, Krankenhausaufenthalte für Weaning-Versuche oder Begutachtungen können für schwerkranke Menschen anstrengend sein.

    Einige Verbände fordern deshalb mehr Investitionen in Weaning-Zentren und eine flexiblere Gestaltung der Fristen in Härtefällen. Auch die telemedizinische Potenzialerhebung könnte künftig helfen, Versorgungsengpässe zu überbrücken.

    Trotz dieser Herausforderungen gilt: Langfristig soll die Potenzialerhebung sicherstellen, dass Patienten genau die Versorgung erhalten, die sie brauchen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

    Fazit

    Die Potenzialerhebung ist ein entscheidender Baustein der Reform der außerklinischen Intensivpflege. Sie stellt sicher, dass jede Beatmung und jede Trachealkanüle regelmäßig hinterfragt werden – immer mit dem Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und die Versorgung zu optimieren.

    In diesem Artikel haben Sie gelernt:

    • Welche gesetzlichen Grundlagen und verbindlichen Regeln ab dem 01.07.2025 gelten
    • Wie sich die Potenzialerhebung auf Ärzte, Pflegekräfte, Krankenkassen und Patienten auswirkt
    • Welche Chancen und Herausforderungen in der praktischen Umsetzung bestehen

    Für alle Beteiligten bedeutet das mehr Verantwortung, aber auch mehr Sicherheit und Perspektiven für die Patienten. Ein wichtiger nächster Schritt für alle, die in diesem Bereich arbeiten oder betroffen sind, ist es, sich mit dem Thema in der Praxis vertraut zu machen – also der konkreten Entwöhnung von der Beatmung.

    Erfahren Sie im nächsten Beitrag, wie ein erfolgreicher -Entwöhnungsprozess, bzw. ein Ausbau der Spontanatmung organisiert wird und welche interdisziplinären Teams dabei eine Schlüsselrolle spielen.

    Weiterführende Quellen


    Lars Dufeldt ist ausgebildeter Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Atmungstherapeut (DGP). Seine Weiterbildung bei der DGP schloss er mit der besten Facharbeit des Jahrganges ab und ist seitdem als Fachbereichsleiter für pneumologische Langzeitrehabilitation im Zentrum für Beatmung und Intensivpflege tätig. Über diese Tätigkeit hinaus besitzt Lars auch eine Weiterbildung zur Pflegefachperson für neurologische Langzeitrehabilitation und verknüpft sein Wissen aus beiden Fachbereichen zum Wohl unserer Klienten und Klientinnen mit außerklinischen Beatmungs- und Intensivpflegebedarf an unseren Standorten Berlin und Hamburg.


    Weitere interessante Artikel:

    Trachealkanülen im Überblick

    x

    Lust auf einen neuen Job?

    Schau doch mal auf unserer Karriereseite vorbei.