Gefangen im eigenen Körper: Ursachen und Behandlung des Locked-in-Syndroms
Beim Locked-in-Syndrom (LiS, übersetzt: Gefangensein-Syndrom) leben erkrankte Personen in einem Zustand der vollständigen körperlichen Lähmung (sog. Tetraplegie). Das vollständige Bewusstsein bleibt bei diesem Syndrom erhalten. Diese Einschränkung führen zu einem fast vollständigen Verlust der Fähigkeit, mit ihrer Umgebung zu kommunizieren. Erfahren Sie in diesem Artikel mehr über die Ursachen, Symptome, Heilbarkeit sowie der Pflege von LiS-Betroffenen.
Betroffene des Locked-in-Syndroms können ihre Umwelt bewusst wahrnehmen | © olga_demina - stock.adobe.com
Diagnose
Locked in bedeutet umgangssprachlich eingeschlossen zu sein. LiS ist ein seltenes Syndrom in Folge einer Haupterkrankung und wird im Zuge dieser diagnostiziert. Es gibt keine spezifischen Zahlen zur Häufigkeit. Schätzungen zufolge ist etwa eine Person von einer Million Menschen betroffen. Männer sind häufiger betroffen als Frauen.
WICHTIG: Die Erkrankung an LiS ist keineswegs mit einem wachkomatösen Zustand (Syndrom reaktionsloser Wachheit bzw. Syndrom minimalen Bewusstseins) gleichzusetzen. Patienten im Wachkoma verfügen über kein vollständiges Bewusstsein. LiS-Patienten haben gegenüber Wachkoma-Betroffene eine Kommunikationsfähigkeit. Sie können bei vollem Verstand hören sowie sehen und damit ihre Umgebung wahrnehmen.
Ursachen für die Erkrankung
Die häufigste Ursache für eine Lähmungserscheinung ist ein Infarkt des Hirnstamms, besser bekannt als Schlaganfall. Dabei kommt es zu einer starken Einschränkung oder sogar zu einer Unterbrechung der Blutversorgung von Mittelhirn, Hirnbrücke und verlängertem Rückenmark. Dies kann zu einer erheblichen Einschränkung an diversen Körperfunktionen und Bewegungsunfähigkeit führen.
Ursachen, in deren Folge Locked-in-Syndrome auftreten können:
- Schlaganfall
- Meningitis (Hirnhautentzündung),
- Schädel-Hirn-Trauma
- bestimmte Nervenerkrankungen wie die amyotrophe Lateralsklerose (ALS),
- ein Tumor verursacht durch Krebserkrankungen,
- Guillain-Barré-Syndrom
- schwere Traumata sowie
- Verletzungen des Gehirns durch Unfälle
Seltener tritt es bei Patienten mit Multiple Sklerose, Arterien- oder Nervenentzündungen sowie nach Drogenmissbrauch auf.
Die Großhirnfunktion wird beim Locked-In-Syndrom nicht beeinträchtigt | © Zacon Studio - stock.adobe.com
Symptome des Locked-in-Syndroms
Die Lähmungen, die bei einem LiS auftreten, betreffen alle vier Extremitäten sowie die horizontalen Blickbewegungen. Meist geht auch die Fähigkeit zum Sprechen, Schlucken und der Mimik verloren. Die Kommunikationsfähigkeit beschränkt sich lediglich auf vertikale Blickbewegungen.
Die Aktivität des Gehirns der Betroffenen bleibt unbeeinträchtigt, wodurch ihr Biorhythmus im Prinzip dem eines gesunden Menschen gleicht. Nur selten führen Schmerzen oder Unwohlsein zu Beschwerden. Ein Bewusstsein für die eigenen Lähmungen besteht jedoch. Die kognitiven Fähigkeiten können eingeschränkt sein, abhängig davon, was das Locked-in-Syndrom ausgelöst hat.
Aufgrund der Lähmung und der Schädigung des Hirnstamms ist eine Nahrungsaufnahme auf herkömmliche Weise nicht möglich. In vielen Fällen wird eine enterale Ernährung durch eine Sonde oder parenteral über einen venösen Zugang empfohlen.
Heilbarkeit und Lebenserwartung
Erkrankungen an diesem Syndrom können in der Regel nicht vollständig geheilt werden. Dies stellt sowohl für die Betroffenen, als auch für ihre Angehörigen eine enorme Belastung dar.
In den meisten Fällen beeinträchtigt das Locked-in-Syndrom nicht die Lebenserwartung des Patienten. Der Verlauf der Krankheit hängt jedoch stark von der Ursache ab. Eine kausale Behandlung des Syndroms ist ebenso nicht möglich. Um die Lebensqualität der Betroffenen zu erhöhen, sind verschiedene Therapien und eine professionelle Pflege erforderlich.
Angehörige sind ein wichtiger Faktor für die Rehabilitation | © Stockgiu - stock.adobe.com
Pflege von Patienten mit Locked-in-Syndrom
Um Betroffene erfolgreich rehabilitieren zu können, bedarf es vor allem einer intensiven und individuellen Kombination aus professioneller Pflege, Ergotherapie, Logopädie sowie Physiotherapie. Das primäre Ziel liegt dabei in der Mobilisierung der Patienten und der Überwindung ihrer Bewegungsunfähigkeit. Zugleich wird das Denkvermögen geschult. Eine frühzeitige Rehabilitation erhöht die Erfolgsaussichten signifikant. Einrichtungen wie das Zentrum für Beatmung und Intensivpflege in Berlin und Hamburg bieten die nötige Betreuung und die Möglichkeit einer transdisziplinären Rehabilitation von Patienten des Locked-in-Syndroms.
In der professionellen Pflege wird neben den grundpflegerischen Tätigkeiten und den gängigen Prophylaxen wie Kontraktur-, Pneumonie- und Dekubitusprophylaxe vor allem mit konzeptionellen Pflegemethoden gearbeitet. Dazu gehört zum Beispiel die geführte Pflegeintervention nach dem Affolter Modell. Bei dieser geführten Interaktionstheraphie werden die Patienten aktiv in den Pflegeprozess mit eingebunden und dabei unterstützt, die Bewegungsabläufe neu zu erlernen.
In der Physiotherapie hat sich das "systematische repetitive Basis-Training" als vorrangiges Prinzip etabliert. Diese Methode beinhaltet wiederholte, gezielte Übungen und Bewegungsmuster, die darauf abzielen, den betreffenden Muskel zu stärken, die Gelenke beweglich zu halten und die motorischen Fähigkeiten zu verbessern.
Der Bereich Ergotherapie unterstützt im Wiedererlernen der Fein- und Grobmotorik. Weitere Schwerpunkte liegen auf der Verbesserung der Körpersprache, der Entwicklung sozio-emotionaler Fähigkeiten und der Unterstützung bei eventuellen Anpassungen im häuslichen Umfeld sowie der Beschaffung geeigneter Hilfsmittel. Ergotherapie hilft zudem, die kognitiven Eigenschaften wie Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnis zu verbessern.
Die logopädische Therapie zielt darauf ab, die Schluckfunktion zu verbessern oder zu erhalten, um eine selbstständige Aufnahme von Nahrung wieder zu ermöglichen. Diese Übungen helfen Dysphagie (Schluckstörungen) zu vermeiden und verringern zudem das Risiko von Aspiration. Die Logopädie fördert weiterhin durch gezielte Übungen die Sprachfähigkeit, um eine aktive Interaktion mit dem Umfeld der Patienten zu fördern.
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Beatmung bei Patienten mit Locked-in-Syndrom
Die (Be-)Atmung bei LiS-Patienten ist ein wichtiges Thema. Betroffene Personen sind nicht mehr in Lage, ihren Körper selbstständig zu steuern. Daher muss die Zufuhr von Sauerstoff dauerhaft überwacht sowie unterstützt werden, um sofort auf Atemstörungen reagieren zu können. Spezielle Atemübungen und Atemtherapie kann zudem die Atmung fördern, welches die Lebensqualität verbessert und Komplikationen vermeidet.
Ein genaues Monitoring und regelmäßige Diagnostik kann beim Erkennen von Potenzialen hilfreich sein | © Atlas - stock.adobe.com
Locked-in-Patienten & Kommunikation
Die Betreuung von Locked-in-Patienten stellt eine enorme Herausforderung für das medizinische Fachpersonal dar. Aufgrund ihrer schweren neurologischen Schädigungen sind die Betroffenen vollständig gelähmt und können sich nicht verbal oder durch Bewegungen ausdrücken. Sie sind somit nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse und Gedanken den Fachpflegekräften sowie den Angehörigen mitzuteilen. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, alternative Kommunikationswege zu finden, um ihre Bedürfnisse zu verstehen und ihnen die richtige Hilfe in der Intensivpflege zukommen zu lassen.
Kommunikation mit den Augen
LiS-Patienten können in den meisten Fällen mit ihren Augen kommunizieren. Die Augenbewegungen oder das Augenzwinkern bietet aber nur eine beschränkte Verständigung, da hierbei nur Ja- oder Nein-Antworten, bzw. durch Und- oder Oder-Antworten möglich sind.
Mittlerweile unterstützen augmentative und alternative Technologien (AAC) die Bewegungen der Augen. Mit technischer Unterstützung, wie Computer, sprachgenerierende Geräte oder Augensteuerungssysteme, können Locked-in-Patienten beispielsweise Buchstaben, Wörter oder Symbole auswählen, indem sie mit ihren Augen oder anderen Körperteilen bestimmte Bereiche oder Tasten berühren. Diese Geräte können eine enorme Erleichterung für das Leben von betroffenen Personen darstellen. Sie geben ihnen die Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren und ihre Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken.
Eine weitere Methode ist die Verwendung von Hirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer-Interfaces kurz BCI). Dabei werden die Gehirnströme mittels Elektroenzephalografie (EEG) als elektrische Signale interpretiert, ausgewertet und als Befehl ausführt. Mit der direkten Kopplung von Gehirn und Computer werden keine Muskeln benötigt.
Die Umsetzung solcher Kommunikationsmöglichkeiten erhöht die Qualität des Alltagslebens enorm. Sie erfordert jedoch speziell geschultes Personal und finanzielle Ressourcen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Locked-in-Patienten die bestmögliche Betreuung erhalten. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Angehörigen in die Umsetzung einbezogen werden, damit eine kontinuierliche und effektive Kommunikation gewährleistet ist.
FAQ
Welche Therapien sind bei Locked-in-Syndrom besonders hilfreich?
Bei LiS sind verschiedene Therapieansätze wichtig, um die Lebensqualität zu verbessern. Physiotherapie unterstützt die Beweglichkeit, während Ergotherapie hilft, motorische Fähigkeiten und Alltagsfertigkeiten zu fördern. Logopädie spielt eine zentrale Rolle, um Schluckstörungen zu behandeln und Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern. Auch Atemtherapie ist oft notwendig, um die Atemfunktion zu stärken.
Wie kann die Kommunikation mit Locked-in-Patienten erleichtert werden?
Für die Kommunikation können augmentative Technologien wie Augensteuerungssysteme oder sprachgenerierende Geräte eingesetzt werden, um Patienten eine aktive Teilnahme zu ermöglichen. Eine andere Möglichkeit ist die Hirn-Computer-Schnittstelle, die elektrische Signale aus dem Gehirn nutzt, um Befehle zu übertragen. Diese Methoden erfordern jedoch geschultes Personal und technische Ausstattung.
Welche Rolle spielen Angehörige in der Pflege von Locked-in-Patienten?
Angehörige sind ein wichtiger Bestandteil der Rehabilitation, da sie kontinuierliche Unterstützung bieten und zur emotionalen Stabilität beitragen. Sie sollten in die Pflege und Kommunikationsmethoden eingebunden werden, um den Patienten bestmöglich zu unterstützen und mit den Pflegekräften zusammenzuarbeiten.
Kann Locked-in-Syndrom durch eine präventive Lebensweise vermieden werden?
Da LiS häufig durch Schlaganfälle verursacht wird, können präventive Maßnahmen zur Schlaganfallprävention das Risiko senken. Dazu gehören ein gesunder Lebensstil mit regelmäßiger Bewegung, gesunde Ernährung, Nichtrauchen und die Behandlung von Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Diabetes.
Welche Herausforderungen bestehen bei der Langzeitpflege von Locked-in-Patienten?
Die Langzeitpflege von LiS-Patienten erfordert spezielle Kenntnisse, um Lähmungen zu managen, die Atmung zu unterstützen und Dekubitus oder Kontrakturen vorzubeugen. Regelmäßige Therapieeinheiten, der Einsatz technischer Kommunikationshilfen und ein multidisziplinäres Team sind unerlässlich, um die bestmögliche Betreuung zu gewährleisten.
Florian Seybecke ist Fachbereichsleiter für die neurologische Langzeitrehabilitation in der ZBI Gruppe. Vor seinem Studium zum Bachelor of Science Pflege, mit den Schwerpunkten Qualitätsmanagement, wissenschaftliches Arbeiten sowie Care und Case Management, schloss er die Ausbildung zum examinierten Altenpfleger erfolgreich ab. Der Pflegeexperte für Menschen im Wachkoma und MCS gibt zudem auch als Dozent sein Wissen weiter.
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Quellen:
- Bernstein E. (2021) "Was ist das Locked-In-Syndrom?", MedLexi.de 2023.
- Laureys S. Dr. med. (2012) "Diagnosis Locked-in-Syndrom", Orphan Drugs, 2023.
- Maiese K. (2022) "Locked-in-Syndrom", MSD Manual, Rztgers University.
- Rückert C. Dr. med. (2022) "Ursache, Diagnose, Symptome und Therapie des Locked-in-Syndrom, Schlaganfall Begleitung e.V.